Ich bin nicht obrigkeitsgläubig

Liebe Meta, ein Schlagabtausch ist gut. Die „laue Mitte“ ist mir ein Graus. „Maß und Mitte zu halten“ hört sich zwar gut an, dient aber in Diskussionen eher nicht der Wahrheitsfindung, sondern hilft, sie zu vermeiden. Allerdings sollte der Schlagabtausch nach wenigen grundsätzlichen Regeln erfolgen. Die Wichtigste: Nicht unter die Gürtellinie zu schlagen. Deine (scherzhafte) Vermutung, ich hätte „relativieren“ falsch benutzt, weil ich möglicherweise noch einen Filmriss hatte, ist zumindest auf Gürtelhöhe.

Des Rätsels Lösung ist: Ich bin nicht obrikeitsgläubig, auch dann nicht, wenn die Obrigkeit ein Wörterbuch sein soll. Ich gehe von meiner geliebten Muttersprache aus, und die Bedeutung von Wörtern kann ich mir selbst schon noch herleiten.

„Etwas realisieren“ – da steht in meinem Duden von 2000 noch (nur): Etwas in die Tat umsetzen, etwas verwirklichen. Inzwischen ist die Anglisierung der deutschen Sprache weiter vorangeschritten und es ist dazu gekommen: etwas zu begreifen, zu durchschauen. Ich halte mich konsequent an die Bedeutung von „realisieren“, die dieses Wort im Deutschen schon immer hatte. Modische Bedeutungserweiterungen sind mir zuwider: Wir haben genug eigene Worte, um die Bedeutung „etwas verstehen/begreifen“ auszudrücken und müssen da nicht auf diesen Anglizismus zurückgreifen.

Ähnlich ist es mit „relativieren“. Auch dieses Wort ist in seiner Bedeutung „aufgeladen“ worden, diesmal nicht aus dem Englischen, sondern aus dem Ideologischen. Jeder Mensch, der denken und Wortbedeutungen selbst aus seiner eigen Sprache herleiten kann, weiß, dass „relativieren“ heißt, Relationen herzustellen, also etwas ins Verhältnis zu setzen. Das kann allerdings in der Tat dazu führen, dass der Absolutheitsanspruch einer Tatsache „relativiert“ wird. Aber der Völkermord der Nazis an den Juden wird ja in seiner Monstrosität nicht verkleinert, indem andere Völkermorde neben ihn gestellt werden.

In einem hast du recht1: Jeder sollte zuerst, vor allem, wenn es um Schuld geht, bei sich selbst anfangen. Es ist zu einer Unkultur in unserer narzisstischen, sich vereinzelnden und in Interessengruppen fragmentierenden Gesellschaft geworden, immer zuerst laut schreiend auf die Fehler des anderen zu zeigen und keine Gedanken darauf zu verwenden, worin denn die eigenen liegen (könnten).

Also: Der Völkermord der Nazis an den Juden sollte in unserer Gedenkkultur für uns Deutsche an erster Stelle stehen, weil wir die Täter waren. Auch aus patriotischen Gründen, schon im engeren Sinne des Wortes: Unter den Millionen Juden, die die Nazis ermordeten, waren auch eine halbe Million Deutsche, unter ihnen viele, die sich besonders für ihr Vaterland eingesetzt hatten. Aber auch, wenn wir mit uns selbst anfangen, sollten wir doch die anderen Völkermorde genauso benennen und nicht 90 Jahre brauchen, bis wir das tun.

Im Anderen, was Du schreibst, liebe Meta, stimmen wir ja sowieso überein. Da hast Du recht. Es ist wohltuend für mich, das von Dir als eher „links“ denkendem Menschen zu lesen. Allerdings: Dass das Deutsche zu kurz kommt, wenn es nicht um Schuld geht, ist offensichtlich und hat nichts mit einer Schmollecke zu tun.

1 Das ist die zweite Diskussionsregel nach dem „Nicht unter die Gürtellinie schlagen“, dass wir in einem Streitgespräch nicht vergessen sollten, danach zu suchen, wo der andere recht haben könnte. (Die 3. und letzte Regel aus Respekt vor der Zeit des Lesers: Sich so kurz wie möglich auszudrücken. Dass ich jetzt nicht den „Leser“ weiblich und männlich „doppelmopple“, ist übrigens auch eine Frage des Respekts in diesem Sinne, denn das spart Zeit zum Lesen und Verstehen, abgesehen davon, dass man das Weibliche nicht zu einer Ableitung des Männlichen herabstufen sollte – siehe meinen Kommentar zu „Gendern 3“ in Mutter Sprache.)

Ein Kommentar zu “Ich bin nicht obrigkeitsgläubig”

  1. Meta sagt:

    Wann ist man obrigkeitsgläubig?
    Wenn man tut, was die Obrigkeit von einem verlangt? Bestimmt. Wenn man glaubt, was die Obrigkeit einem erzählt? Na klar. Wenn man als Mitläufer im Mittelfeld am liebsten unauffällig bleibt? Auch das. Aber es gibt auch eine Obrigkeitsgläubigkeit, die als Widerstand daherkommt und der Obrigkeit ganz recht ist. Wer zum Beispiel lauthals und pauschal alle öffentlich-rechtlichen Medien als Lügenmedien bezeichnet, will gar nicht erst die Mühe aufbringen, dazwischen Beiträge mit hohem Wahrheitsgehalt zu entdecken. Wer unablässig mehr Demokratie fordert, aber dabei weiter an sein traditionelles Demokratieverständnis glaubt, beteiligt sich an einer Als-ob-Demokratie, in der die wirklichen Entscheider nicht die gewählten Volksvertreter sind. Wer die Europäische Union dafür kritisiert, dass Deutschland viel zu kurz wegkommme, überspringt die unbequeme Landesebene und damit die praxisrelevante Frage, warum Otto Normalbürger so wenig vom Reichtum Deutschlands profitiere.
    Diese Art von Widerstand dürfte unserer Obrigkeit keineswegs den Angstschweiß auf die Stirn treiben – im Gegenteil, diese Art von Widerstand ist staatserhaltend.

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